In meinem Unterricht hat es leider noch einen zu kleinen Stellenwert, was vor allem an den Rahmenrichtlinien liegt. Hier gibt es ja bestimmte Vorgaben, wie viele Klassenarbeiten beispielsweise geschrieben werden müssen oder auch was ersetzt werden darf. Ich versuche das Maximum auszureizen und schaue, was meine Leitplanken sind und welche Freiheiten ich habe. Und dann versuche ich eben, das Maximale herauszuholen.
Wie setzen Sie diese neue Prüfungskultur ganz konkret um?
Ich probiere mich hier in zweierlei Hinsicht aus: Einerseits ersetze ich ein Teil der ‚klassischen‘ Prüfungen durch Ersatzleistungen. Ich habe die Schüler:innen zum Beispiel Podcasts aufnehmen lassen, habe sie Erklärvideos und Greenscreen-Videos drehen oder aber Interviews mit fiktiven Persönlichkeiten und mithilfe der KI führen lassen. Außerdem lasse ich sie regelmäßig Vorträge zu bestimmten Themen erstellen – ob als Video, Präsentation oder Essay ist dabei ihnen überlassen. Und dann gibt es da ja noch die ‚echten‘ Prüfungen, also Klassenarbeiten, die nicht ersetzt werden können. Auch hier versuche ich das Maximale herauszuholen. Im Rahmen meiner Klassenarbeit in Mathe haben meine Schülerinnen und Schüler beispielsweise am Anfang zehn Minuten Zeit, um sich einen Spickzettel zu schreiben. Oder, was ich erst kürzlich gemacht habe, sich zunächst in Gruppen auszutauschen. Dafür bekamen sie am Anfang ein kleines Zeitfenster, nachdem ich die Arbeit ausgehändigt hatte. In beiden Fällen mache ich das mit dem Ziel, Druck rauszunehmen. Ich will, dass Schülerinnen und Schüler zeigen, was sie können – und daran ändert auch ein Spickzettel nichts. Ich beobachte immer wieder, dass Schüler:innen den Lernstoff beherrschen, in künstlichen Stresssituationen aber dicht machen. Das will ich nicht.
Wie haben die Schüler:innen auf diese neuen Prüfungsformate reagiert?
Ich weiß noch, wie entgeistert sie mich angeschaut haben, als ich ihnen erlaubt habe Spickzettel zu schreiben und sich während der Klassenarbeit in Gruppen auszutauschen. Im Nachgang habe ich sie gefragt, wie das für sie war. Das Feedback war super positiv – gerade von Schüler:innen die Prüfungsangst haben, die sich selbst sehr schlecht einschätzen oder die ein geringes Fähigkeiten-Selbstkonzept haben. Gerade diese Schülerinnen und Schüler haben zurückgemeldet, dass sie besser abliefern konnten, weil es eben nicht so stressig war. Dabei waren die Ergebnisse gar nicht signifikant besser. Aber die Schüler:innen hatten ein besseres Gefühl beim Schreiben. Sie haben außerdem zurückgemeldet, dass sie die Note viel besser akzeptieren könnten. Was die alternativen Prüfungsformate angeht, war das Feedback dagegen zwiegespalten. Etwa dreiviertel der Klasse fanden die Ersatzleistungen super. Allerdings stecken darin auch viel Arbeit und Zeit, die sich die Schüler:innen einteilen müssen. Das kann in Stress ausarten, weswegen ein kleiner Teil der Klasse eine ‚normale‘ Prüfung bevorzugt.
Welche Potenziale und Vorteile bieten die umgesetzten Beispiele im Vergleich zu klassischen Prüfungsformaten?
Prüfungen haben im Grunde zwei Merkmale: Selektion und Diagnostik. Es werden Noten vergeben, die dann irgendwann einen bestimmten Schulabschluss begründen. Auch möchte man schauen, wie Unterricht weitergehen kann, was möglicherweise geändert werden muss. Meiner Meinung nach rückt bei alternativen Prüfungsformaten der zweite Punkt mehr in den Fokus: weg vom summativen hin zum formativen. Und ich glaube auch, dass Schülerinnen und Schüler bei alternativen Prüfungsformaten, zum Beispiel beim Dreh eines Videos, ziemlich viel lernen können – während das bei einer klassischen Prüfung eben nicht der Fall ist. Bei Klassenarbeiten lernen Schülerinnen und Schüler meiner Meinung nach nichts. Sie lernen im besten Fall davor, aber nicht währenddessen. Weshalb eine Prüfung, sofern sie nicht der Benotung dient, einem Schüler meiner Ansicht nach erst mal nichts bringt. Neue Prüfungsformate können stattdessen dabei helfen, dass sich Schüler:innen viel intensiver mit Themen auseinandersetzen. Unsere Kerncurricula sind so voll – viele Themen kann ich in der Regel nur anschneiden. Wenn Schülerinnen und Schüler dann eben mal zwei, drei Wochen Zeit haben und einen solchen Film drehen, können sie sich ganz anders, sehr viel intensiver mit dem Thema auseinandersetzen. Das finde ich gut.
Planen Sie zusätzliche Zeit ein, um die Schüler:innen mit den jeweiligen Tools und Medien vertraut zu machen, mit denen bestimmte Ersatzleistungen erbracht werden sollen, oder ist das ein Selbstlernprozess?
Es ist eine Mischung aus beidem. Ich unterrichte eine I-Pad-Klasse und im Rahmen des Unterrichts habe ich bzw. meine Kolleginnen und Kollegen immer wieder darauf geachtet, auch außerhalb von irgendwelchen Prüfungsformaten gewisse Tools und Medien einzuführen, von denen wir glauben, dass sie irgendwann wichtig werden. Wie zum Beispiel dem Dreh von Erklärvideos. Vieles haben sich unsere Schüler:innen nach der Einführung dann auch selbst angeeignet, neue Tools erprobt und ihr Wissen erweitert. Im Fall der Erklärvideos, die eine Ersatzleistung in meinem Unterricht darstellen, halte ich einen Aspekt für sehr wichtig: die Bewertungskriterien transparent machen. Ich habe diese mit meinen Schülerinnen und Schülern gemeinsam erarbeitet. Ich habe nicht vorgegeben, wie ein Erklärvideo am Ende aussehen muss, sondern die Schüler:innen aktiv miteinbezogen. Ich habe sie gefragt, woran sie es festmachen, ob ein Erklärvideo gut ist. Wir haben die Punkte dann zusammengetragen, ehe ich den Kriterienkatalog entwickelt habe. Ich habe sie schlussendlich also mit ihren eigenen Kriterien bewertet. Es ist wichtig, hier transparent zu sein, denn Benotung darf keine Blackbox sein.
Worauf gilt es zu achten, wenn Lehrer:innen eine neue Prüfungskultur in Ihrem Unterricht etablieren wollen?
Zunächst gilt es zu klären, was überhaupt erlaubt ist. Außerdem würde ich empfehlen, Kolleginnen und Kollegen, die das schon machen, ganz aktiv anzusprechen und sich gegenseitig auszutauschen. Außerdem sollte man mutig sein und Dinge einfach mal ausprobieren und mit den Schülerinnen und Schülern darüber ins Gespräch kommen. Ihnen erklären, warum es neue Prüfungsformate gibt und wieso es sinnvoll sein kann, von den Standardvarianten abzuweichen. Worüber man sich aber vor allem bewusst sein sollte, ist die Arbeit, die in die Vorbereitung fließt. Wenn man eine gute Aufgabenstellung für eine Ersatzleistung haben will, braucht es einen klaren Kriterienkatalog, ein klares Bewertungsraster und ein Arbeitsauftrag, den die Schülerinnen und Schüler wirklich bewältigen können. Das braucht Zeit, die man sich nehmen muss. Danach ist es dafür umso entspannter. Dann ist man wirklich ein Lernbegleiter.
Hatten Ihre Beispiele Auswirkungen auf schulischer Ebene oder auf das Kollegium?
Es gibt einzelne Kolleg:innen, die mitbekommen haben, was ich mache, und die interessiert nachfragen. Aber es gibt eben auch Skeptiker. Daneben hat sich ein kleiner Pool an Menschen gebildet, die sich mit dem Thema auch beschäftigen und mit denen ich mich gelegentlich austausche. Es kommen super Ideen zustande, wenn man gemeinsam auf einer Sache herumdenkt, sich ausprobiert. Unser Ziel ist es, Aufgaben zu entwickeln, aus denen die Schülerinnen und Schülern letztlich auch etwas mitnehmen können und lernen.
Was sind Ihre Learnings?
Meine größte Erkenntnis ist, dass Klassenarbeiten eben nicht zum Lernen da sind. Ich möchte Schülerinnen und Schüler auf einen bestimmten Abschluss vorbereiten und ich will, dass sie dafür möglichst fit werden und viel lernen. Im Rahmen unseres Systems, das sehr eingeschränkt ist, nutze ich alle mir gebotenen Freiheiten. Denn ich glaube, dass ich sie dadurch besser vorbereiten und ihnen mehr mitgeben kann. Es ist utopisch zu denken, nur weil ich als Lehrer etwas im Unterricht behandle, können meine Schüler:innen das dann eben auch. Sie lernen nicht, nur weil sie ein Arbeitsblatt von mir bekommen, sondern weil sie sich mit einem Thema umfassend beschäftigen. Dafür braucht es eben Zeit. Und sicherlich fallen dadurch andere Themen hinten weg. Meiner Meinung nach ist es mit neuen Prüfungsformaten auch einfacher, den Schülerinnen und Schülern aufzuzeigen, was sie können und worin sie gut sind, statt nur Fehler anzustreichen. Und das ist aus meiner Sicht ein kleiner Schritt, um Bildung ins nächste Jahrhundert zu befördern.