Deep Learning mittels neuronaler Netzwerke - © DKJS
Beim genauen Blick offenbaren sich jedoch verschiedenen Risiken und Schwachpunkte. Einerseits handelt es sich bei künstlicher Intelligenz noch immer um menschengemachte Anwendungen, die teilweise nach einem inhärenten Wertesystem handeln, das sich in den Ergebnissen widerspiegelt. Durch gewichtete Algorithmen können Vorurteile reproduziert und Vorannahmen bestätigt werden. Zudem handelt es sich beim Deep Learning um eine „Black Box“, das heißt, die Entscheidungsfindung des Systems ist aus menschlicher Perspektive nicht mehr nachvollziehbar. KI-generierte Texte geben im Fall von ChatGPT keine Angaben zu den verwendeten Quellen oder beziehen sich teils auf frei erfundene Quellenangaben. Auch wenn es bereits Anwendungen gibt, die von KI erzeugte Texte erkennen soll, ist eine Plagiatsprüfung faktisch kaum noch möglich. Zum anderen produziert ChatGPT aufgrund des auf Wahrscheinlichkeiten beruhenden Sprachmodells nicht immer richtige Ergebnisse und ist mitunter sogar manipulierbar. Auf den ersten Blick plausibel erscheinende Antworten können zur unreflektierten Übernahme verleiten, weil die Grenzen des Systems nicht erkannt werden.
Doch es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass Chatbots und andere KI-gestützte Tools fester und frei verfügbarer Bestandteil unserer Lebenswelt sein werden. Dabei ist ChatGPT lediglich die Akkumulation verschiedener langfristiger Entwicklungslinien, nur die momentan noch freie Verfügbarkeit und die breite öffentliche Diskussion erwecken den Eindruck des Beginns einer neuen Ära. Ebenso handelt es sich bei den erwähnten Schwachpunkten in den überwiegenden Fällen um versions- oder produktspezifische Eigenschaften, die in absehbarer Zeit überwunden werden können. Faktisch setzen Schüler:innen, aber auch Lehrkräfte, ChatGPT bereits für unterschiedliche Aufgaben ein. Es stellt sich also insbesondere die Frage, wie ein reflektierter und didaktisch sinnvoller Einsatz von künstlicher Intelligenz im Bildungsbereich aussehen kann.
Potenziale und Herausforderungen
Die potenziellen Anwendungsmöglichkeiten von ChatGPT und KI in der Schule , aber auch die Herausforderungen, die sich aus der Nutzung ergeben, sind mannigfaltig und lassen sich kaum abschließend erfassen. Klar ist jedoch, dass der Erwerb von Medienkompetenz weiter an Bedeutung gewinnt. Denn bestimmte Fähigkeiten, wie das Auffinden und Bewerten von Inhalten aus unterschiedlichen Quellen, bilden die Grundlage für eine reflektierte und souveräne gesellschaftliche Teilhabe in einer digitalisierten Lebenswelt. Gerade diese Fähigkeiten lassen sich auch mit dem Einsatz von ChatGPT schärfen. Beim Lösen der gleichen Aufgabe durch die Lernenden und die KI können Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und die Funktionsweise des Systems thematisiert werden. In der Diskussion mit der Lehrperson kann der Einsatz diskutiert und gemeinsame Richtlinien für die Nutzung festgelegt werden, auch um Beteiligungsprozesse der Schüler:innen einzuüben.
Bereits in seiner jetzigen Form kann ChatGPT als assistierendes System eingesetzt werden, um individuelle Schwächen von Schüler:innen auszugleichen. Sie können beispielsweise Vorschläge für sprachliche Verbesserungen und Alternativen für von ihnen verfassten Texte erhalten. Das kann ihnen helfen, ihre Ausdrucksfähigkeit zu verbessern. Ebenso ist denkbar, automatisiert individuelle Fragestellungen erzeugen zu lassen, um das eigene Wissen zu prüfen. Denn gerade in ihren assistiven bzw. tutoriellen Funktionen bergen KI-Systeme ihr größtes Potenzial für den Einsatz im Bildungsbereich. Insbesondere beim regelbasierten Lernen, also in Bereichen, in denen es ein eindeutiges richtig und falsch gibt, wie beispielsweise in der Mathematik oder beim Vokabeln lernen können existierende Systeme ihre Stärken ausspielen. Als adaptive Lernsysteme geben sie individuelles Feedback zum eigenen Lernverhalten und können so Schwächen aufzeigen und gezielte Übungen erstellen. Auch auf Klassenebene lassen sich KI-gestützte Systeme einsetzen, um Lern- und Leistungsprognosen zu erstellen. Daneben eröffnen sich vielfältige Anwendungsbereich in der Schulverwaltung, beispielsweise in der intelligenten Raumverwaltung oder der automatisierten Erfassung von Fehl- und Vertretungszeiten. In anderen Bereichen stoßen die verfügbaren Systeme jedoch an ihre Grenzen. Denn gerade im konzeptbasierten Lernen, also in jenen Bereichen, in denen es kein klares richtig oder falsch gibt und es um die Interpretation von Inhalten oder das Herstellen von Zusammenhängen geht, erzeugt ChatGPT in der aktuellen Version oftmals nur unbefriedigende Antworten.
Aus der Perspektive der Lehrenden zeigt sich Entlastungspotenzial durch den Einsatz von KI-gestützten Systemen. So kann der Einsatz von intelligenter Schreib- und Korrektursoftware wie Papyrus Autor dabei helfen, Grammatik, Rechtschreibung und Stilistik von Aufsätzen zu korrigieren. So werden zeitliche Ressourcen frei, um den Fokus auf Inhalt und Gedankengänge zu richten. Auch ermöglichen von den Lernenden verwendete tutorielle Systeme eindeutige Einblicke in den Lernstand einzelner Schüler:innen, indem sie aufbereitete Analysedaten bereitstellen. Lehrkräfte behalten so den Überblick und können gegebenenfalls mit ihren pädagogisch-didaktischen Kernkompetenzen gegensteuern.
Einblicke und Anregungen zum Umgang mit KI im Klassenzimmer
Doch wie nutzen Schulen KI-gestützte Systeme bisher? Ist der Einsatz bereits Alltag oder findet er nur vereinzelt statt? In der Europaschule Herzogenrath, einer ehemaligen Netzwerkschule im Programm bildung.digital, ist der Einsatz textgenerierender KI-Systeme im Schulbetrieb bisher noch wenig spürbar, allerdings hat sich die Schulleitung bereits mit dem Thema auseinandergesetzt. Basierend auf dem Handlungsleitfaden zu textgenerierenden KI-Systemen des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen wurde die Entwicklung von Konzepten für den Einsatz von ChatGPT im Unterricht angestoßen. Besonders positiv hebt Daniel Küsters, Lehrer an der Europaschule Herzogenrath und Koordinator für IT und Neue Medien, die ausgewogenen Perspektive des Handlungsleitfadens hervor. „Grundsätzlich finde ich es persönlich sehr positiv, dass der Mehrwert und der Nutzen für den Unterricht und die Medienkompetenz der Schüler:innen herausgestellt werden und nicht nur auf Risiken hingewiesen wird.“ Zwar werden Grenzen gezogen, die jedoch einem grundsätzlichen Einsatz nicht entgegenstehen. „Der Handlungsleitfaden gibt zwar aus nachvollziehbaren Gründen Einschränkungen auf Grundlage des Datenschutzes vor“, sagt Daniel Küsters. „Er weist aber auch darauf hin, dass Lehrkräfte textgenerierende KI-Systeme ganz vielfältig für ihren Unterricht nutzen können und auch – unter Beachtung vor allem der Datenschutzvorgaben – dürfen. Das empfinde ich als ein starkes Signal für die Zukunft.“ Somit steht dem grundsätzlichen Einsatz von KI-Systemen in der Schule nichts entgegenstehen.
Insbesondere für Schulen, die sich erstmalig mit den Potenzialen künstlicher Intelligenz für den Einsatz im Unterricht beschäftigen, lohnt sich der Blick auf inspirierende Vorbilder. Ein besonders herausragendes Beispiel liefert das Evangelische Stiftsgymnasium Gütersloh (ESG). Bereits seit 1999 werden dort Laptops im Unterricht eingesetzt, Tablets und das Lernmanagementsystem (LMS) itslearning wurden bereits in den 2010er-Jahren eingeführt. Auf dieser Grundlage konnte die Nutzung unterschiedlicher KI-gestützter Systeme etabliert werden. So setzt das Gymnasium beispielsweise im Mathematikunterricht auf das adaptive Lernsystem Bettermarks, das individualisierte Lernwege für Schüler:innen möglich macht, indem Aufgabestellungen auf die eigenen Kenntnisse und Schwächen abgestimmt werden. Dabei kann sich der Einsatz auch als Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit zeigen: Die Erfahrungen mit dem Einsatz dieses tutoriellen Systems haben gezeigt, das schwache Lernende dabei unterstützt werden, ein mittleres Kompetenzniveau zu erlangen. Zugleich besteht jedoch im vermehrten Einsatz KI-gestützter Systeme das Risiko einer sich immer weiter öffnenden Kompetenzschere. Denn oftmals sind leistungsstärkere Schüler:innen in der Lage, ihre Fähigkeiten durch den Einsatz von KI zu potenzieren, während leistungsschwächere Schüler:innen weiter zurückfallen. Auch die technische und personelle Ausstattung von Schulen spielt an dieser Stelle eine herausragende Rolle, damit Bildungsgerechtigkeit nicht durch mangelnde Ressourcen auf der Strecke bleibt.
Der breite Einsatz digitaler Technologien am ESG ermöglicht aber auch das Aufbrechen klassischer schulischer Strukturen. So werden ab der Mittelstufe keine Hausaufgaben mehr aufgegeben. Die Lernenden bearbeiten Übungsaufgaben in freien Lernzeiten und dokumentieren ihre Lernfortschritte eigenständig auf ihrer persönlichen Seite des LMS. Dies fördert einerseits die Selbstverantwortung der Schüler:innen, zeigt andererseits aber auch deutlich das Ausbleiben von Lernfortschritten auf und ermöglicht so eine zeitnahe Intervention durch pädagogische Fachkräfte. Denn durch den Einsatz assistiver KI-Systeme auch in der Schul- und Klassenverwaltung werden Lehrkräfte von administrativen Aufgaben entlastet und können ihre zeitlichen Ressourcen für die Ausübung ihrer pädagogischen Aufgaben einsetzen.
Im Zusammenspiel aller Elemente sind jedoch noch weitere Veränderungen von Lernstrukturen möglich. So werden an der ESG zunehmend Klassenverbände aufgelöst und durch individualisierte Lernwege und das Eingehen auf die heterogenen Bedürfnisse der Lernenden ersetzt. Die Inhalte und Formate werden dabei zunehmenden an den Lernstand der einzelnen Schüler:in angepasst und Frontalunterricht macht Platz für ortsungebundene, individuelle Lernsettings oder MakerSpaces für gemeinsame Projekte. Dennoch bleibt der Einsatz von KI auch in Gütersloh auf assistive Funktionen beschränkt. Sie kann Lehrkräfte unterstützen und entlasten, aber keinesfalls ersetzen.
Beispiele wie das des ESG können so als Inspiration dienen, wie KI didaktisch und methodisch sinnvoll im Schulbetrieb eingesetzt werden kann. Doch greifen diese Veränderungen, wie die Beispiele zeigen, auf mehrere Ebenen der Schulentwicklung ein. Damit diese Neuerungen von der ganzen Schulgemeinschaft mitgetragen werden, braucht es Zeit und eine bedachte Umsetzung. Das unterstreicht auch Daniel Küsters von der Europaschule Herzogenrath: „Das ist für uns aber auch die Chance, in Ruhe planen zu können und nicht auf akute Frage- und Problemstellungen mit spontanen Regelungen reagieren zu müssen.“