Nicht alle Lehrkräfte, Eltern und Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, staatliche Lernplattformen zu nutzen. Deshalb wird gerade vielerorts nach schnellen, digitalen Lösungen für die Unterrichtsorganisation gesucht. Auch bildung.digital hat hierzu eine Liste mit Tipps und Links erstellt, die fortlaufend aktualisiert wird. Teilweise greifen Lehrkräfte auf kommerzielle Dienste zurück, die nur deshalb kostenlos sind, weil die Nutzer den Anbietern ihre persönlichen Daten zur Verfügung stellen. Gleichzeitig gilt in Deutschland weiterhin die Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO).
An welchen Stellen kann es hier zu Konflikten kommen?
Stefan Schönwetter (Datenschutzbeauftragter bei der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung): Schulen als staatliche Einrichtungen müssen ganz besonders behutsam mit den Daten von Schülerinnen und Schülern umgehen. Das hat damit zu tun, dass wir uns selten der Datenverarbeitung des Staates entziehen können, weil dieser unsere Daten verarbeiten muss, um seinen Pflichten nachzukommen. Also muss dieser die Verarbeitung besonders sicher gestalten. Diese Aufgabe haben letztendlich Lehrkräfte als die direkten Kontaktpersonen mit den Schülerinnen und Schüler umzusetzen. Dafür müssen Lehrkräfte auch keine Einwilligung einholen, um personenbezogene Daten zu verarbeiten. Die Rechtsgrundlagen ergeben sich aus der Schulpflicht und daraus, dass wir ohne die Verarbeitung personenbezogener Daten Kinder und Jugendliche nicht individuell unterstützen könnten.
Zum Datenschutz gehört es aber auch zu überlegen, wer in meinem Auftrag personenbezogene Daten verarbeitet. Hier kommen Videokonferenzsysteme und andere digitale Plattformen ins Spiel. Sie verarbeiten, während man sich beispielsweise in Videokonferenzen befindet, personenbezogene Daten - zum Beispiel Daten über die Geräte, die wir nutzen, oder Standortdaten. Manche Anbieter analysieren aber auch Stimmen und unsere Gesichter, weil sie parallel auch Software für Gesichtserkennung und Transkriptionen anbieten oder verbessern wollen. Man muss sehr genau prüfen, ob das den hohen staatlichen Anforderungen genügt. Viele Lehrkräfte können das alleine nicht beurteilen. Auch den Datenschützenden fällt es oft nicht leicht zu verstehen, wie Daten auf solchen Plattformen verarbeitet werden. Daher können Lehrkräfte grundsätzlich nicht einfach eigenverantwortlich eine Plattform für ihre Schulklassen einrichten. Die Schulleitungen als die rechtlich für Datenverarbeitung Verantwortlichen müssen mit dem Schulträger und den dortigen Datenschützenden die eingesetzte Technik abklären.
Was wir derzeitig an vielen Stellen erleben, ist ein Missachten von Datenschutzstandards. In der Not werden die Plattformen genutzt, die es sonst niemals in den Unterricht schaffen sollten, wie etwa WhatsApp oder Zoom.
Wenn nun Schülerinnen und Schülern von heute auf morgen Dienste nutzen sollen, die möglicherweise datenschutzrechtlich bedenklich sind, sendet das nicht auch ein falsches Signal an sie?
Schönwetter: Es macht zunächst die große Not vieler Lehrkräfte deutlich. Es braucht jetzt ein Tool, mit dem sie Schülerinnen und Schüler erreichen können. Selten spielt in einer solchen Situation dann der Datenschutz die größte Rolle in der Abwägung, ob und wie eine neue Software eingeführt wird.
Hier liegt auch das Kernproblem: Wie auch beim Urheberrecht fühlen sich viele Lehrkräfte nicht sicher, wenn es um Datenschutz geht. Lehrkräfte, die jetzt auf WhatsApp oder Zoom setzen, werden vor ihren Schülerinnen und Schülern sehr unglaubwürdig, wenn es um kritische Medienbildung geht. In der Praxis gibt es immer noch das Phänomen, dass sich bequeme Tools schnell durchsetzen und Datenschutz als „Nice to have“- Recht verstanden wird. Das bemerken auch Kinder und Jugendliche. Sie verinnerlichen diese Haltung. Dabei ist Datenschutz doch eine Errungenschaft unserer Gesellschaft. Europa wird weltweit geschätzt und gefeiert, für das was mit der DS-GVO erreicht wurde.
Schülerinnen und Schüler, die selbst schon eine fundierte Meinung zum Datenschutz haben, sehen natürlich auch gerade, dass Lehrkräfte gewillt sind, ihre personenbezogenen Daten in der Not einfach an Plattformbetreiber zu geben. Das ist auch kein schönes Signal.
Wenn Lehrkräfte nun ein Tool nutzen und dies für Schülerinnen und Schüler verpflichtend ist - was können Eltern tun, die im Hinblick auf den Datenschutz Bedenken haben?
Schönwetter: Datenschutz ist schnell ein emotionales Thema, bei dem oft kontroverse Meinungen im Raum stehen. Es bietet sich zuallererst an, ein Gespräch zwischen Lehrkraft und Eltern zu suchen. Wenn ein Elternteil datenschutzrechtliche Bedenken hat, dann sollte er oder sie diese klar umreißen können. Gleichzeitig sollte sich die Lehrkraft auch in der Lage sehen, zu den genutzten Tools und deren Datenverarbeitungsprozessen auskunftsfähig zu sein.
Im Zweifel können sich Eltern immer an die Landesdatenschützer wenden. Auch die kommunalen Schulträger sollten Datenschützer haben, an die man sich wenden kann. Das sollte aber nur geschehen, wenn man sich mit den Lehrkräften nicht einigen kann.
Nichtsdestotrotz bleibt vielen Lehrkräften aktuell nichts anderes übrig, als schnelle Lösungen zu finden. Gibt es für sie einen Weg, den digitalen Fernunterricht DS-GVO-konform zu gestalten? Was können sie in den nächsten Wochen beachten?
Schönwetter: Diese Frage muss man auf vielen Ebenen bearbeiten. Lehrkräfte sollten in Abstimmung mit den im Land präferierten digitalen Lösungen arbeiten. Das sind ganz klar die Lösungen, die geprüft sind.
Falls Schulen sich genötigt sehen, sich im Alleingang für bestimmte Tools zu entscheiden, sollte dennoch eine kritische Prüfung von Plattformen geschehen. Es gibt zahlreiche Vorlagen für Datenschutz-Folgenabschätzungen, die helfen, Risiken einzuordnen. Man muss über digitale Plattformen diskutieren und man muss sich auch in der aktuellen Dringlichkeit die Zeit dafür nehmen.
Vermieden werden sollte es, dass jede Lehrkraft eigene Lösungen sucht und implementiert. Das bringt die Schülerinnen und Schüler auf zahlreiche Plattformen und vervielfacht die Orte, an denen ihre Daten unberechtigterweise verarbeitet werden.
Alle Lösungen, die nicht Landeslösungen sind, sollten nur als temporär betrachtet und kommuniziert werden, sowohl den Eltern, als auch den Schülerinnen und Schülern gegenüber. Wenn Unterricht wieder innerhalb der Schulen stattfindet, kann man mit den Schulklassen „Account-Lösch-Partys“ durchführen. Das Problem ist damit jedoch nicht gelöst, denn für einen größeren Zeitraum haben viele Plattformen personenbezogene Daten von Schülerinnen und Schülern verarbeitet. Ganz formal korrekt müssten die Kinder und Jugendlichen dabei unterstützt werden, Mails an die Plattformbetreiber zu senden, um die Löschung ihrer Daten dort zu veranlassen. Dieses Recht auf Löschung wird von der DS-GVO explizit benannt.
Auf der pädagogischen Ebene ist es sinnvoll, mit seinen Klassen das Thema Datenschutz gemeinsam zu reflektierten und den Wert von geschützten personenbezogenen Daten herauszuarbeiten. Mit den politischen Debatten rund um die Eindämmung des Coronavirus gibt es hierzu auch zahlreiche Anknüpfungspunkte.
Längerfristig betrachtet: Was muss in Deutschland passieren, damit die Schulen bei einer eventuellen nächsten Krise, die Unterricht zuhause nötig macht, gut vorbereitet sind?
Schönwetter: Es braucht schlicht verlässliche IT-Strukturen, die in den Unterricht hinein reichen. Diese Strukturen müssen den Kindern und Jugendlichen auch zu Hause zur Verfügung stehen – in gleicher Qualität. Was wir gerade erleben ist eine Verschärfung der Bildungsungerechtigkeit. Einige Kinder werden beschult, weil die Schule IT-Systeme einführen konnte. Einige Kinder werden beschult, weil sie zu Hause ein Laptop oder Tablet haben. Aber viele werden gerade nicht erreicht, weil sie weder die Geräte noch die Zugänge zu diesen Geräten besitzen. Vor allem müssen die Lehrkräfte hier aus der Verantwortung genommen werden, für dieses Problem Lösungen finden zu müssen. Es ist eine Aufgabe der Kultusministerien, für die Implementierung dieser Strukturen zu sorgen . Die Lehrkräfte müssen sich auf den Weg machen, diese Strukturen didaktisch und pädagogisch auszufüllen. Dafür müssen sie Medienkonzepte entwickeln, die auch Datenschutz als Thema behandeln.