Schulen sind Orte des Lernens und der Entwicklung – nicht nur für Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die Menschen, die sie gestalten. In einer Welt, die sich immer schneller verändert, braucht es Offenheit für neue Impulse und den Mut, bewährte Strukturen weiterzuentwickeln. Unternehmen setzen immer häufiger auf agile Methoden, schnelle Entscheidungs- und Kommunikationswege und eine klare Kultur des Wissensaustauschs. Doch was kann das Bildungssystem davon lernen? Wie können Schulen von wirtschaftlichen Organisationen profitieren, um besser mit Unsicherheiten und neuen Technologien umzugehen? Und was bedeutet das für das Führungshandeln von Schulleitungen und Schulaufsichten?
Wir haben mit Julia Borchert, Expertin für Organisationsentwicklung bei Cassini Consulting, gesprochen. Cassini berät Unternehmen – vom Mittelstand bis Konzern – sowie öffentliche Institutionen in Transformationsprozessen und begleitet sie auf dem Weg zu mehr Agilität, digitaler Innovation und nachhaltigem Wandel. Im Interview gibt Julia Borchert spannende Einblicke, wie Organisationen durch eine gezielte Kulturentwicklung und Wissensmanagement ihre Zusammenarbeit verbessern – und welche Impulse daraus für Schulen und Bildungseinrichtungen entstehen können.
Kulturentwicklung als Prozess verstehen
„Es ist mittlerweile unbestritten, dass Unternehmenskultur ein entscheidender Faktor für erfolgreiche Zusammenarbeit, wirtschaftlichen Erfolg und die gesamte Organisationsstruktur ist“, betont Julia Borchert. Damit verbunden seien Werte, Überzeugungen und Handlungsprinzipien. „Wenn in einer Organisation bereits ein grundlegendes Selbstverständnis verankert ist, dass man sich als gemeinsames Team versteht und Wissen geteilt wird, dann ist das eine starke Grundlage.“
Wie Julia Borchert berichtet, ist das Bewusstsein für die Bedeutung von Unternehmenskultur und Kulturentwicklung in den vergangenen Jahren deutlich gewachsen. Immer mehr Organisationen erkennen den Bedarf, sich gezielt mit diesen Themen auseinanderzusetzen. „Wir erhalten viele Anfragen von Unternehmen, die sagen: ‚Wir möchten unsere Unternehmenskultur besser verstehen und gezielt weiterentwickeln. Welche Maßnahmen oder Initiativen können wir ergreifen?‘“ Ob Konzern, Mittelstand oder öffentliche Institution – die Relevanz dieses Themas wird branchenübergreifend anerkannt.
Die große Herausforderung liegt jedoch darin, dass sich eine bestehende Kultur nicht einfach verändern lässt. „Sie ist oft sehr stabil und erhält sich durch verschiedene Mechanismen selbst.“ Hinzu kommt, dass es oft schwer sei, die tatsächlich vorherrschende Kultur zu erkennen. Der Ansatz von Cassini besteht daher darin, diese meist unbewussten und erlernten Verhaltensweisen sichtbar zu machen – durch Beobachtung, Interviews, Workshops und enge Zusammenarbeit. So entsteht schrittweise ein klares Bild davon, welche Kultur tatsächlich gelebt wird. Auch Schulen könnten diesen Ansatz adaptieren.
„Häufig stellen wir fest, dass eine Diskrepanz besteht zwischen der Kultur, die offiziell gewünscht oder nach außen hin kommuniziert wird, und der Kultur, die sich in der Praxis zeigt. Erst wenn man genauer hinschaut – insbesondere auf informeller Ebene –, erkennt man, welche ungeschriebenen Regeln wirklich den Alltag bestimmen.“
Eine Unternehmenskultur zu verändern, erfordert Zeit, betont Julia Borchert. „Das sind keine Veränderungen, die in wenigen Monaten abgeschlossen sind.“ Cassini begleitet einige Unternehmen über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren. Dabei ist man nicht durchgehend präsent, sondern unterstützt sehr gezielt – sei es durch die Entwicklung neuer Ansätze oder durch die methodische Gestaltung und Begleitung des Gesamtprozesses.
Wo stehen wir und wohin wollen wir?
Damit eine Unternehmenskultur entstehen oder weiterentwickelt werden kann, in der Wissen aktiv geteilt wird, braucht es eine gemeinsame strategische Ausrichtung, betont Julia Borchert. Diese müsse für alle Mitarbeitenden transparent und nachvollziehbar sein. Ein durchdachtes Zielsystem spiele dabei eine entscheidende Rolle, da es sicherstellt, dass alle Mitarbeitenden in die gleiche Richtung arbeiten, sich an gemeinsamen Zielen orientieren und ihren eigenen Beitrag erkennen können.
„Nur wenn Mitarbeitende den Sinn und Mehrwert von Zusammenarbeit spüren – insbesondere beim Teilen von Wissen – wird dies als natürlicher Bestandteil der Unternehmenskultur verankert.“
Die strategische Ausrichtung einer Organisation sollte vorrangig über die Führungsebene definiert werden. Dies zeigt sich insbesondere dann als sinnvoll, wenn Organisationen in hierarchie-determinierten Strukturen arbeiten. Gleichzeitig sei es entscheidend, diese Vision auf verschiedene Ebenen herunterzubrechen: Was bedeuten die übergeordneten Ziele für Abteilungen, Bereiche und Teams? „In die Ausgestaltung der Ziele und Maßnahmen sollten Mitarbeitende stark eingebunden werden, damit alles gut ineinandergreift“, so Julia Borchert.
Um eine klare strategische Richtung zu entwickeln, sei zunächst eine ehrliche Standortbestimmung erforderlich: Wo steht die Organisation aktuell? Welche Stärken sind bereits vorhanden? Wo gibt es Potenziale? Was läuft bereits gut? Unternehmen würden vor dieser Bestandsaufnahme manchmal zurückschrecken, berichtet Julia Borchert. Doch dieser Schritt sei essenziell, um gezielt und wirksam an der Unternehmenskultur zu arbeiten.
Zudem erfordern strategische Ziele eine strategische Denkweise – und die sollte nicht nur auf Führungskräfte oder das obere Management beschränkt sein. Vielmehr sei es wichtig, dass alle Mitarbeitenden in die Lage versetzt werden, Unternehmensstrategien zu verstehen und auf ihren eigenen Arbeitsbereich zu übertragen. Die zentrale Frage laute: Wie kann ich die strategische Ausrichtung der Organisation in meinen Kontext übertragen und selbst strategisch handeln? Ebenso entscheidend sei das Verständnis dafür, wie verschiedene Elemente innerhalb einer Organisation miteinander vernetzt sind und sich gegenseitig beeinflussen.
Lebenslanges Lernen als Voraussetzung
Das komplexe Umfeld einer Organisation, das von zahlreichen Veränderungen und Unsicherheiten geprägt ist, erfordert eine Vielzahl an Fähigkeiten und Kompetenzen – insbesondere das vernetzte Denken, wie Julia Borchert betont. Es gehe darum, Zusammenhänge zu erkennen, verschiedene Aspekte miteinander zu verbinden und über den eigenen Aufgabenbereich hinauszudenken.
„Mitarbeitende sollten verstehen, was an unterschiedlichen Stellen in Organisationen geschieht und wie sich diese Aspekte gegenseitig beeinflussen.“
Ein Schlüsselthema sei dabei die Fähigkeit, Mehrperspektivität zuzulassen. Es gehe nicht nur darum, offen für unterschiedliche Sichtweisen und Haltungen zu sein, sondern sich aktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. Dieser Diskurs ermögliche es, neue Lösungen zu entwickeln und innovative Wege zu finden.
Zusätzlich sei die Entwicklung von Selbstkompetenzen von zentraler Bedeutung. „Mitarbeitende sollten nicht nur fachliche oder methodische Fähigkeiten besitzen, sondern vor allem in der Lage sein, sich kontinuierlich neues Wissen und neue Kompetenzen anzueignen. Es reicht nicht mehr aus, einmal eine Fähigkeit zu erlernen – vielmehr geht es darum, sich selbstständig weiterzuentwickeln und an neue Herausforderungen anzupassen.“ Da viele der Kompetenzen, die in Zukunft gebraucht werden, heute noch nicht genau definiert werden können, sei die Fähigkeit, lebenslang zu lernen, entscheidend. Dazu gehört auch, Haltungslernen zu fördern – also eine Veränderung in Perspektiven und Denkmustern. Solch ein Lernprozess könne beispielsweise durch diskursive Formate unterstützt werden, in denen verschiedene Sichtweisen intensiv diskutiert werden.
Von Silos zu Vernetzung
Nicht nur in Schulen, sondern auch in Unternehmen lässt sich oft ein „Silo-Denken“ beobachten – eine stark fachspezifische Perspektive, bei der nur der eigene Arbeitsbereich betrachtet wird. „Es gibt verschiedene Ansätze, um dem entgegenzuwirken“, erklärt Julia Borchert. Ein Beispiel dafür ist die Methode des Job Shadowing, eine Art Hospitation. Diese Methode biete gleich zwei Vorteile, wie Julia Borchert erzählt: Einerseits könne ein grundlegendes Verständnis dafür geschaffen werden, was eine andere Person tatsächlich tut. Andererseits können Mitarbeitende durch das über-die Schulter-Schauen die alltäglichen Aufgaben und Herausforderungen ihrer Kolleg:innen besser nachvollziehen.
„Häufig scheitert der Austausch nicht an mangelnder Offenheit – viele Menschen wären durchaus bereit, sich zu vernetzen –, sondern einfach daran, dass sie gar nicht genau wissen, womit sich andere konkret beschäftigen.“
Zudem stärke Job Shadowing das vernetzte Denken und den Transfer auf den eigenen Arbeitsbereich. „Dabei entstehen oft Aha-Momente: ‚Oh, das unterscheidet sich ja gar nicht so sehr von meiner Arbeit!‘ oder ‚Davon wusste ich gar nicht – aber ich könnte dabei unterstützen!‘“ Diese Erkenntnisse machen den Wissensaustausch und die Vernetzung besonders wertvoll, so Julia Borchert.
Ein weiteres bewährtes Konzept seien, laut Julia Borchert, Fokusgruppen. Diese Gruppen aus Mitarbeitenden einer Organisation beschäftigen sich gezielt mit einem bestimmten Thema oder einer gemeinsamen Herausforderung und tauschen sich fachübergreifend darüber aus. Ergänzt werden diese Treffen oft durch kurze Impulsvorträge aus verschiedenen Fachrichtungen, die neue Perspektiven eröffnen und den interdisziplinären Dialog fördern.
In Organisationen, die bereits stärker vernetzt arbeiten, hätten sich auch interdisziplinäre Entscheidungsgremien als geeignet erwiesen, wie Julia Borchert erläutert. „In diesen Gremien werden Entscheidungen bewusst gemeinsam getroffen, um unterschiedliche Fachperspektiven einzubeziehen. Das macht den Prozess zwar zunächst komplexer, führt aber langfristig zu besseren Lösungen.“ Allerdings sei dies bereits ein weiterführender Schritt. Der erste und wichtigste Schritt sollte darin bestehen, den Austausch zu fördern und gegenseitiges Verständnis aufzubauen. „Das sind grundlegende Voraussetzungen – nicht nur für Unternehmen, sondern auch für Schulen, die von einer stärkeren Vernetzung enorm profitieren könnten.“
Rolle der Leitung
Ein entscheidender Erfolgsfaktor – wenn nicht sogar der wichtigste, wie Julia Borchert betont – für die Förderung von Wissenstransfer und Zusammenarbeit sind die Leitungskräfte. Diese haben einen maßgeblichen Einfluss darauf, ob eine Kultur des Teilens tatsächlich gelebt wird. „Ohne Rückhalt aus der Geschäftsführung oder der Direktion können neue Ansätze nicht nachhaltig in der Organisation verankert werden. Es braucht die klare Entscheidung: ‚Wir nehmen uns diese Zeit, weil wir langfristig davon profitieren‘“, erklärt Julia Borchert. Wenn dieser Rahmen einmal gesetzt sei, zeige sich häufig, dass organisationale Veränderungen nicht zusätzliche Zeit kosten, sondern die Zusammenarbeit verbessern und effizienter gestalten.
Auch der Kontakt und die Zusammenarbeit zwischen Leitung und Teams seien in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. „Studien belegen, dass Führungskräfte, die engen Kontakt zu ihren Teams pflegen, erheblichen Einfluss auf das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden haben – und damit auch auf deren Gesundheit.“ Diese Erkenntnis werfe die Frage auf, welche Art von Führung wir heute benötigten, so Julia Borchert. Besonders in stark hierarchischen Systemen, wie es in Schulen häufig der Fall sei, werde deutlich, dass der Einfluss von Führungskräften auf die Mitarbeiterbindung besonders stark ist.
Erste Schritte wagen
„Oft begegnen wir dem Wunsch nach klaren, zentralen Tipps oder schnellen, sofort umsetzbaren Maßnahmen. Ich kann diesen Wunsch nach Einfachheit absolut nachvollziehen. Dennoch versuchen wir von Anfang an, diese Erwartungshaltung einzuordnen. Denn unsere Erfahrung zeigt, dass es erfolgversprechender ist, individuell auf die jeweilige Organisation zu schauen und gemeinsam passgenaue Lösungen zu entwickeln, anstatt eine standardisierte Methode einfach überzustülpen“, berichtet Julia Borchert. In den meisten Fällen passe ein solcher „One-Size-Fits-All“-Ansatz nicht. Dasselbe gilt sicherlich auch für Schulen, betont Julia Borchert.