Doris Weßels, Professorin für Wirtschaftsinformatik und Stefan Schönwetter, DKJS-Experte für Digitale Bildung, im Gespräch über die Potenziale und Grenzen von KI-Systemen in der Bildung, über hidden player und die nächste Welle aus Multi-KI-Agenten.
„KI kann in den nächsten Jahren eigentlich jedes Lehrwerk und jedes Arbeitsheft überflüssig machen, da es zu jedem Thema quasi unendliche Texte und Übungsmöglichkeiten bietet" - so die Aussage einer Lehrkraft in unserem KI-Pilotversuch. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das hören?
Prof. Dr. Doris Weßels: Ich stimme der Aussage zu, auch wenn sie sehr radikal formuliert ist. Vieles, was wir im Bildungsbereich haben, wird sich drastisch verändern. Ein Aspekt kommt mir dabei immer zu kurz, den es jedoch stärker zu berücksichtigen gilt: die Qualifizierung der Lehrenden. Bei neuen digitalen Tools, bei Hard- und Software, fehlt die Erfahrung und das Gefühl über die Möglichkeiten und Grenzen der Technologien. Lehrkräfte tun sich schwer. Manche starten dann gar nicht erst den Versuch und lassen sich auf die neuen Technologien nicht ein. Andere sind dagegen experimentierfreudiger – fehlinterpretieren aber auch die Einsatzmöglichkeiten. Gerade bei generativer KI ist ein gewisses Grundverständnis über die Technologie, und insbesondere die Limitationen und Risiken, aber wichtig. Denn nur wenn Lehrkräfte die Technologien auch verstanden haben, können sie Wissen kompetent an die Lernenden weitergeben.
Stefan Schönwetter: Ich verstehe den Tenor der Lehrkraft und bin komplett bei Frau Weßels. Ich finde den Punkt der Lehrkräftequalifizierung total entscheidend, um den Rahmen zu kennen, in dem man sich mit der Software beschäftigen kann. Wenn man mit dem Ziel herangeht, dass generative KI einige Lernmittel ersetzen soll, dann muss man sich auch darüber klar sein, was man damit sonst noch abschafft. Die Vorteile von vielen Lernangeboten und Lernmitteln sind ja, dass diese von pädagogischen Fachkräften geprüft sind, um ein gewisses Maß an Qualität sicherzustellen. Wenn Lehrkräfte nun generative KI einsetzen, dann müssen sie auch die Qualität gewährleisten.
KI hat sich innerhalb von 2 Jahren von einem Nischenthema zum absoluten Megatrend in der schulischen Bildung entwickelt. Wie schätzen sie die Lage derzeitig ein: Ist KI nur ein Diskurs-Tiger oder auch eine Praxisbiene?
Stefan Schönwetter: Ich fand ganz spannend, was John Hattie vor Kurzem in einem Vortrag gesagt hat: Damit neue Systeme oder Ansätze im Bildungswesen Fuß fassen können, müssen sie eine gewisse kritische Schwelle übertreten, um sich weiter zu verbreiten. Ideal wäre es, wenn 25 Prozent der Lehrkräfte oder Schulen diese neuen Systeme nutzen – anschließend zieht es langsam seine Bahnen im System. Die DKJS hat im Dezember eine forsa-Umfrage zum Tag der Bildung veröffentlicht. Dort haben wir Schüler:innen gefragt, ob sie denn schon KI genutzt haben im Unterricht. In der Umfrage hat sich gezeigt, dass es einerseits Unterschiede gibt zwischen den verschiedenen Schulformen, wir aber noch nicht bei diesen 25 Prozent sind. Aus meiner Sicht sind wir aktuell noch in einer Phase, wo sehr progressiv-experimentierfreudige Lehrkräfte sehr laut sind. Wir haben es aber noch nicht geschafft, KI als einen natürlichen sparring-partner und Lernbuddy ins Fortbildungssystem, in den Unterrichtsalltag und in Schul- und Fachbereichskonferenzen zu integrieren.
Prof. Dr. Doris Weßels: Ich kann der Aussage nur zustimmen. Man muss sich auch der Rolle bewusstwerden, die diese Software einnimmt. Software, die wir in Form einer generativen KI bekommen, ist von ganz anderer Qualität als das, was wir im Bereich der Bildungstechnologien bisher nutzen. Jetzt ist ein Akteur eingezogen, der sehr eigenständig agieren kann und der kontinuierlich wachsende Fähigkeiten besitzt. Dieser Akteur tritt manchmal sichtbar in Erscheinung, aber er ist auch ein hidden player, der auf beiden Seiten eingesetzt wird. Er wird sowohl bei den Lernenden eingesetzt als auch bei den Lehrenden – doch es wird nicht nach außen getragen. Das ist aus meiner Sicht die tragische Entwicklung, die wir mit diesem Thema bestritten haben und auch schnellstmöglich korrigieren müssen. Wir brauchen Transparenz, wir brauchen Offenheit und wir brauchen klare Spielregeln.
Die Lernenden leiden unter dieser Rechtsunsicherheit, unter den wirren Anweisungen, die sie von jeder Lehrperson bekommen. Und sie nehmen auch die Unsicherheit bei den Lehrenden wahr, die sich an das Thema nicht herantrauen, wodurch sich Missverständnisse einschleichen.
Im April letzten Jahres war ich eingeladen zu einer Expertendiskussion bei der Anhörung eines Bundestagsausschusses zum Thema ChatGPT. Ich habe dringend empfohlen, eine Taskforce-KI-Bildung einzurichten, um schnellstmöglich die Lehrenden an allen Bildungseinrichtungen an Bord zu holen und ihnen zumindest ein Grundverständnis über die Technologie zu vermitteln – das ist jedoch nicht passiert. Hier und da gab es mal vereinzelte Aktionen und es gibt die sehr ambitionierten Lehrkräfte, die aber eher ein Bottom-Up-Bewegung in Gang gesetzt haben. Wir brauchen allerdings auch ein Top-Down-Bewegung. Dafür ist jedoch die Management- und Führungsebene von Bildungseinrichtungen abzuholen. Was ich nach 2 Jahren ChatGPT immer noch erlebe, ist ein großes Interesse an dem Thema der Führungsebenen, aber auch noch ganz viel Qualifizierungsbedarf.
Was sich viele nicht bewusst machen, ist dieses unendliche Tempo. Ich bin seit 30 Jahren im IT-Bereich tätig, aber ich habe noch nie ein Thema erlebt, was sich so schnell, so dynamisch entwickelt und gleichzeitig so hohe gesellschaftliche Implikationen hat, aber gleichzeitig auch viele tiefgründige Fragen aufwirft.
Stefan Schönwetter: Die Transparenz und die Offenheit KI-Systeme zu nutzen, finde ich zentral. Was wir häufig in der öffentlichen Debatte erleben, dass die Länder sagen: ‚Wir haben ja super schnell Handreichungen herausgegeben.‘ Wir merken aber, dass Handreichungen keine Lehrkräfte qualifizieren. Handreichungen sind ein super Produkt, um sich schnell zu orientieren, aber sie schaffen keine Handlungssicherheit im Unterrichtsraum und auch keine Rechtssicherheit. Das sind unglaublich komplexe Themen. Am Ende stehen Lehrkräfte vor Eltern, die ganz fundamentale Fragen haben – was können Eltern erwarten, wie ihr Kind zukünftig gebildet wird? Und diese Antworten haben wir bis heute noch nicht gegeben und das führt auf allen Seiten zu Verunsicherung.
Prof. Dr. Doris Weßels: Bei KI-Handreichungen ist es leider so, dass sie als eine schnelle, vermeintliche Lösung geschrieben und veröffentlicht werden. Viele Handreichungen sind aber so wage formuliert, dass sie keine Orientierung und Hilfestellung darstellen oder aber Anweisungen enthalten, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon wieder überholt sind. Es besteht der naive Glaube, dass eine KI-Handreichung, wenn sie einmal geschrieben und veröffentlicht wurde, jahrelang Bestand hat und das Problem löst. Doch auch da schlägt wieder die Dynamik der Entwicklung zu.
Wie müssen Lern- und Prüfungsformate unter Beachtung von KI aussehen, die Zukunftskompetenzen (wie kritisches Denken) oder soziale Kompetenzen fördern?
Prof. Dr. Doris Weßels: Die Diskussionen um Prüfungen war von Beginn an eine sehr Große. Ist die Hausarbeit tot? Müssen jetzt nur noch Klausuren geschrieben werden? Ich fand diese Fragestellung auch deswegen bedenklich, weil sie Prüfungen zum Selbstzweck macht. Wir müssen uns doch aber fragen: Wieso und weshalb machen wir Prüfungen? Was soll dieses Instrumentarium bewirken? Es geht doch im ersten Schritt darum, (neue) Bildungsziele gemeinsam zu diskutieren und uns an diesen zu orientieren. Wenn wir das Ziel kennen, können wir im nächsten Schritt überlegen, wie wir didaktisch dahin kommen. An dritter Stelle kommt dann die Frage, ob wir Prüfungen einbauen, an welcher Stelle und in welcher Form. Aber wir zäumen das Pferd immer von hinten auf. Stattdessen müssen wir uns doch aber viel stärker auf die Ziele fokussieren – und die stecken bereits in dieser Frage drin.
Wir brauchen andere Prüfungsformen des Projektorientierten Lernens. Wir müssen viel stärker den Praxisbezug herstellen und uns in die Lebensrealität der Lernenden hineinbewegen.
Wir haben auch die Aufgabe, die Lerninhalte und das Curriculum auf den Prüfstand zu stellen. Was ist noch zeitgemäß? Was ist noch motivierend? Was macht keinen Sinn mehr und was sollte ersetzt werden? .
Stefan Schönwetter: Ich kann das nur unterstreichen. Vor der Einführung von ChatGPT haben wir schon sehr viel über Prüfungsformate gesprochen und mir scheint es, als hätten wir wieder ein paar Schritte zurück gemacht. Wir haben gesagt, dass wir mehr zu qualitativen Aussagen kommen müssen, zu anderen Feedbacksystemen. Wir wollen weg vom Notensystem oder dieses zumindest reduzieren – weil Noten an und für sich, auch wenn sie eine objektive Zahl darstellen sollen, doch subjektiv gegeben werden von Lehrkräften. Und doch haben wir uns an dem Thema so festgebissen.
Ich würde daher gern noch zwei Dinge highlighten: Wir müssen das kollaborative zwischen den Lernenden stärker fördern – Wissen kann, soll und muss gemeinsam erarbeitet werden. Es geht darum, gemeinsam zu lernen und Lösungen zu finden.
Eine Diskussion, die wir auch nie führen: Was ist eigentlich valides Wissen? Sich darüber Gedanken zu machen, was in unserer heutigen Zeit eigentlich Wissen ist, das Schüler:innen brauchen, ist entscheidend. Und dann sind es doch eigentlich diese forschenden Kompetenzen: neugierig bleiben, sich ein Thema erschließen und Regeln definieren, unter denen ich Informationen generieren kann und mit denen ich Aussagen treffen kann. Diese gilt es stetig fortzuentwickeln. Dabei können uns KI-Systeme gar nicht helfen. Wir müssen unsere Prüfungsordnungen anpassen - aber nicht an eine neue KI-Wirklichkeit, sondern an eine Wirklichkeit der Wissensgesellschaft.
Prof. Dr. Doris Weßels: Das kann ich nur bestätigen. Die große Frage ist ja: Was ist valides Wissen oder was sind Zukunftskompetenzen, die wir fördern möchten? Wir haben es in den letzten zwei Jahren erlebt, dass sich Dinge entwickelt haben, die wir uns gar nicht vorstellen konnten – zum Beispiel dass wir per Knopfdruck Bilder generieren können oder Videos. Diese Multimodalität bietet so viel Potenzial für Lehre und Lernen und diese schöpfen wir noch überhaupt nicht aus.
Wird die Beziehung zwischen Schüler:innen und Lehrkräften durch den Einsatz von KI gestört? Kommt es zu einer Entfremdung?
Prof. Dr. Doris Weßels: Ja, die Entfremdung droht dann, wenn die Beziehung zwischen Mensch und Maschine sehr intensiv wird und von den Schüler:innen als wertvoller wahrgenommen wird als zwischen ihnen und realen Menschen. Ja, dann führt es zu einer Vereinzelung und einer Gefahr von Abhängigkeit. Wir müssen das Suchtpotenzial dieser Technologie sehr kritisch beachten. Das sehe ich als eine große Herausforderung. Deswegen ist die Rolle der Lehrenden auch so wichtig. Die Lehrkräfte müssen sich mit drei Aspekten ihrer Rolle beschäftigen. Das erste ist der sogenannten Content-Kurator. Lehrende müssen sich überlegen, was sie zum jeweiligen Thema vermitteln wollen. Sprich: Was ist der Content, den ich nutzen möchte? Hier sollte qualitätsgeprüftes Material genutzt werden. Der zweite Aspekt ist die Choreographie des Settings. Also Tools, Lerntechniken und -buddys zu integrieren, um das Lernziel zu erreichen und es an die Zielgruppe zu vermitteln. Die dritte Rolle ist eine Art Eventmanger oder Social Manager. Hier gilt es die persönliche Begegnung, das gemeinsame Erleben und das soziale Lernen zu vermitteln. Das alles so zu arrangieren, dass es in Summe ein stimmiges Bild ergibt und meine Lernziele bestmöglich unterstützt, finde ich ausgesprochen schwierig. Denn jeder Teilaspekt ist für sich schon richtig anspruchsvoll.
Stefan Schönwetter: Ich würde zwei Punkte ergänzen wollen. Erstens: die Intransparenz. Alle wissen, dass Tools wie ChatGPT genutzt werden, aber wir tun so, als würden wir sie nicht nutzen. Das ist absolut schädlich für das soziale Miteinander, weil dann auch Misstrauen entsteht. Da müssen wir ehrlicher werden. In der kritischen Schulbuchforschung gibt es außerdem die Beschreibung einer gewissen Autorität zwischen Lehrwerk und Lehrkraft gegenüber den Schüler:innen. In einer sehr klassische Schule bilden Lehrkräfte zusammen mit dem Lehrwerk eine Autorität gegenüber den Schüler:innen, über Falsch und Richtig im Bildungswesen. Wenn nun eine Akteurin, wie die generative KI, in den Unterricht kommt, dann stört es erst mal das System und die Frage nach richtig und falsch wird von einer anderen Stelle anders beantwortet. Das heißt nicht, dass die KI richtig liegt. Auch die KI kann falsche Aussagen treffen – sie ist aber meistens sehr vehement und überzeugend in ihren Aussagen. Die Frage, wer die Hoheit über Wahrheit im Klassenzimmer hat, kann dann jedoch zu Konflikten und Überforderungssituationen führen. Diese Situation muss man sich meiner Meinung nach anschauen und diese muss Teil von Fortbildungen werden.
Wenn sie heute noch mal als Schüler:in in der Schule wären, wie würden Sie sich einen Unterricht im Zeitalter generativer KI vorstellen und wünschen?
Prof. Dr. Doris Weßels: Vor einiger Zeit war ich auf einer Podiumsdiskussion mit einer Schülerin – und sie wurde genau mit dieser Frage konfrontiert. Und sie hat dann, ohne lange zu überlegen, gesagt: ‚Wir brauchen doch gar keine KI in der Schule und im Unterricht, denn die nutzen wir doch eh zu Hause. Im Unterricht würde ich mir so etwas wünschen wie Rollenspiele, Debattierclubs und Projekte, an denen wir gemeinsam arbeiten.‘ Sie hatte also für sich ganz klar den Unterricht vor Augen und hat uns Erwachsenen zurückgespiegelt, dass es doch so einfach wäre und wir anscheinend auf dem völlig falschen Weg sind. Das ist mir im Gedächtnis geblieben. Denn ja, eigentlich ist es auch so: Man muss neu denken – die Lösung ist an vielen Stellen ganz einfach.
Stefan Schönwetter: Ich würde der Schülerin Recht geben, dass wir ziemlich schnell ins Mikromanagement kommen, wenn es darum geht, wie gute Schule aussehen kann. Wir wollen sehr viel regeln, vieles implementieren. Einerseits aus Angst vor Ambivalenzen, aber vielleicht auch, weil wir sehr schnell Neues fest im Bildungssystem verankern wollen. Wenn ich noch mal Schüler wäre, dann würde ich mir einfach andere Unterrichtsformate wünschen – ob KI da eine Rolle spielt oder nicht, kann ich gar nicht sagen. Das kann ein projektorientierter Unterricht sein oder überhaupt eine epochal strukturierte Wissensvermittlung, wo ich neugierig bleibe. Denn das wäre mir wichtig: Dass ich am Ende des Tages Lust habe, mehr über das Thema zu erfahren.
Frau Weßels, Sie sprachen in einer Veranstaltung vom „Untergang der Schriftsprache“ in Schulen. Bedeutet das, Lesen und Schreiben spielt in der Schule der Zukunft keine Rolle mehr?
Prof. Dr. Doris Weßels: So extrem habe ich es nicht formuliert, ich habe nur einige Entwicklungen aufgezeigt. Vor kurzem hat das Land Niedersachsen eine Reform der Oberstufe angekündigt. Das war Anlass für hitzige Diskussionen auf den Social Media Plattformen. Denn in der Oberstufenreform ist ein Element drin, demnach die schriftliche Facharbeit abgeschafft werden soll. Die Frage ist jetzt: Ist es klug, diese abzuschaffen? Lehrkräfte haben sich daraufhin gemeldet und von einer „Kapitulation vor KI“ gesprochen. Nur weil wir nicht wüssten, wie wir mit dieser Technologie und schriftlichen Ausarbeitungen umgehen sollen, würden wir sie lieber direkt streichen. Das Thema polarisiert sehr. Auf der anderen Seite sind Trends deutlich zu erkennen. Ein Trend ist beispielsweise, dass wir auf die auditive Ebene wechseln. Wenn wir uns die unterschiedlichen Tools anschauen, dann stellen wir fest, dass wir Inhalte meist nicht mehr eintippen müssen, sondern dies auch per Spracheingabe funktioniert. Auch die Ergebnisse können wir uns vorlesen lassen. Die Frage ist: Wozu führt das? Führt es dazu, dass wir viel weniger schreiben und lesen werden und dafür eben mehr sprechen und hören? Aus meiner Sicht ja. Denken wir nur an die vielen Podcast, die es gibt. Oder denken wir an die Endgeräte in Schulen – meist sind es Tablets. Diese haben in der Regel gar keine vernünftige Tastatur. Stattdessen können sie – so auch die ICILS Studie – wischen und klicken. Das heißt: Das Schreiben auf der Tastatur steht gar nicht mehr im Fokus.
Stefan Schönwetter: Sie haben gerade schon ICILS angesprochen – ein sehr kontroverses Thema. Was ICILS zeigt: Schüler:innen, die Deutsch nicht als erste Sprache lernen, haben signifikant schlechtere Medienkompetenzen. Da müssen wir ran. Wir müssen Wege finden, wie Sprache in Schrift nach wie vor gut gefördert wird. Das Potenzial, Inhalte per Audio zu lernen, ist also absolut da. Was mir aber gerade fehlt, ist die Diskussion, wie wir unser Wissen in den Audioformaten gut organisieren können. Wenn ich einen Ausdruck oder ein PDF habe, dann mache ich mir da meine Kommentare und Notizen oder markiere mir Passagen. Aber was ist das Äquivalent im Wissensmanagement für die Audioinhalte? Da ist für mich noch eine Lücke erkennbar.
Streifen wir den Blick noch mal etwas weiter. Mit der zunehmenden Digitalisierung der schulischen Bildung werden auch Fragen von Datenpolitik aufgeworfen. Wann und wie sollten wir eine Debatte mit Schüler:innen, Sorgeberechtigten und Lehrkräften über Art und Umfang von Datenverarbeitungen führen?
Stefan Schönwetter: Idealerweise schon gestern. Die Frage ist ja nicht nur relevant für generative KI, sondern ist schon relevant gewesen mit einigen Länderprojekten – zum Beispiel im Digitalpakt, wo es um anpassbare Lernsysteme geht. Die Frage, die man sich stellen muss: Welche Daten braucht es zukünftig, um im Bildungswesen Schüler:innen optimal zu fördern und wie werden diese Daten verarbeitet – und vor allem wie lange? Gehen Daten, die in der allgemeinbildenden Schule entstehen und verarbeitet werden, dann auch in die berufsbildenden Schulen oder das Studium über? Wir haben phasenweise immer wieder Projekte, wo die Vision mitschwingt, dass es zentrale Systeme geben soll, wo die Zeugnisse verifiziert abliegen und wo erkennbar ist, was Menschen gelernt und in welcher Form sie gefördert wurden – einfach auch fürs Bildungsmonitoring. Um zu verstehen, wie Maßnahmen, die zur individuellen Förderung eingesetzt wurden, wirken – oder eben nicht. An dieser Stelle muss man mit Schüler:innen, um die es ja auch geht, und den Sorgeberechtigten diskutieren: Was ist für euch eigentlich in Ordnung? Schließlich ist es ja auch eine Beziehung zwischen Bürger:in und Staat. Wie viel soll der Staat über die Menschen wissen?
Es fehlt eine offene Debatte zu genau dieser Frage. Wir führen diese nicht mit Eltern und erst recht nicht mit den Schüler:innen, weil wir im Bildungswesen eine so unfassbar komplexe Rechtslage haben.
Wir haben nicht nur die DSGVO und das Bundesdatenschutzgesetz, wir haben auch Landesdatenschutzgesetze, Landesschulgesetze und Verordnungen zur Datenverarbeitung im Schulwesen – vielleicht auch noch für unterschiedliche Schulformen. Es ist sehr komplex, da den Durchblick zu behalten und in eine produktive Diskussion zu kommen, an deren erster Stelle die Beziehung zwischen Eltern und Lehrkräften steht. Welche Lehrkraft fühlt sich denn gerade befähigt oder in der Lage, eine Datenschutzdiskussion mit Eltern zu führen? Aber das ist ein großes Problem, weil wir zunehmend mehr Daten automatisiert verarbeiten. Und dann haben wir auch noch die KI-Verordnung...
Prof. Dr. Doris Weßels: Wir brauchen mehr Rechtssicherheit für die Lehrenden, weil viele aus lauter Angst, dass sie einen Rechtsverstoß begehen, lieber in ihren alten Praktiken verharren und nichts Neues praktizieren wollen. Und in der Tat ist der EU-AI-Act auch mit der Anforderung verbunden, dass die Mitarbeitenden in den Organisationen, die mit KI-Systemen arbeiten, dafür qualifiziert sein müssen. Bei uns im Bildungsbereich bedeutet das wiederum, dass auch die Lehrenden und Lernenden qualifiziert sein müssen – und das ist eine ganz große Hürde. Ich sehe die große Gefahr, dass wir die Verordnung mit unserer deutschen Akribie bis ins Detail durchdeklinieren wollen, dass wir drastisch überregulieren und uns damit – was das Thema Digitalisierung betrifft – noch weiter nach unten bewegen. In internationalen Vergleichsstudien sind wir schon jetzt sehr schlecht positioniert, was die Digitalisierung in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen betrifft. Wir sind alles andere als digital-affin.
Stefan Schönwetter: Ich glaube, die Gefahr besteht absolut. Regulierung braucht immer Zeit und Ressourcen – ob das personelle Ressourcen sind oder Fortbildungsressourcen – doch diese Ressourcen sind eben nicht hinterlegt, so zumindest meine Annahme. Und das ist bedauerlich. Dass wir sehenden Auges so einen großen Bedarf an Fortbildungen haben, es aber keine große Initiative gibt, die das tut.
Was kommt nach KI?
Prof. Dr. Doris Weßels: Es wird eine weitere KI-Welle geben, aber in einer ganz anderen Dimension – sogenannte Multi-KI-Agentensysteme bahnen sich gerade ihren Weg in unser Leben. Es geht darum, dass man autonome Systeme als Gruppe betrachten muss, die sich untereinander selbstständig organisieren. Das ist so, als würde man eine Gruppe Menschen in eine Software gießen und jeder Mensch entspricht einem KI-Agenten. Ich könnte jetzt eine sehr komplexe Aufgabe an die Gruppe der KI-Agenten-Systeme geben und je nachdem, wie viel Autonomie und Freiheitsgrade ich erlaube, könnten diese Gruppe allerlei in Gang setzen. Der Zahlungsabwickler Stripe hat bereits KI-Agenten für Online-Käufe angekündigt. Was die Umsetzung im Bildungsbereich betrifft, so könnte sich das in Form von spezifischen KI-Lernagenten mit einem klar definierten, aber auch begrenzten Autonomiegrad niederschlagen, die Lernende auf ihrem Lernpfad individuell begleiten und steuern. Ob diese technologische Möglichkeit jedoch angenommen und genutzt wird oder auch ethisch und rechtlich zu verantworten ist, wird die zukünftige Entwicklung zeigen.
Stefan Schönwetter: Ich schließe mich bei der Frage an die Stellenausschreibung von zukünftigen Lehrkräften an. Meine Hoffnung große Hoffnung wäre, dass sich das Lehrkräftebild aufgrund des Veränderungsdruckes, den wir jetzt gerade spüren, verändert. Dass wir eine Debatte über die Profession von Lehrkräften führen. Dass es verschiedene Arten von Lehrkräften gibt und diese nicht mehr alles können müssen, sondern sie unterschiedliche Spezifizierungen haben und wir eine Differenzierung bekommen. Dass Menschen in Schule arbeiten, die in Projekten statt in Fächern organisiert sind. Ja, das wäre meine große Hoffnung. Und dass wir dann auch darüber nachdenken können, wie zeitgemäßes Bilden und Lehren aussieht.